Martin Rost
Publikationen

Flirten: Die soziale Konstruktion des Jein

Martin Rost

Vorbemerkungen
Version vom 21.03.92
- http://www.maroki.de/pub/sociology/mr_flirt0.html
- E-Mail: martin-rost_at_web_de
- Artikel im TAZ-Archiv
("_at_" bitte durch "@" ersetzen, "_de" bitte durch ".de")
Dieser Text enthält die Manuskriptvorlage für einen Essay, der erschienen ist in: Rost, Martin, 1992: Flirten mit und ohne Theorie - Scherzen, Lästern und Blicken sind typische Umgangsweisen beim Flirten, TAZ, 27. März 1992: Seite 19. Ich habe die nachfolgend präsentierte theoretische Kernfigur der Nähe/ Distanz in den nachfolgenden Jahren, auf den Schienen der Luhmannschen Systemtheorie, weiter entwickelt und dann - auch in Folge einer Ablehnung eines theoretisch durchgestylten Aufsatzes durch eine soziologische Fachzeitschrift, deren Gutachter lieber von Simmel und weniger von Luhmann lesen wollte - allmählich die Lust am Thema verloren. Die Fantasien zum "Flirt-Driver" entzündeten sich zuletzt entlang einer 2x2-Matrix "persönlich/unpersönlich - Nähe/Distanz". Der Vorzug des folgenden Textes, dessen Thesen ich nach wie vor für zutreffend halte, besteht vor allem darin, die Klarheit des Beginns noch nicht verloren zu haben.

Viel gelacht hatten wir beide, einige wenige Minuten lang fast ununterbrochen. Mein ansonsten mir ausreichend klar erscheinender Kopf war dabei abhanden gekommen: "Kontrollverlust" wie ich mir später banal attestierte - wie schön. Ja, sie gefiel mir ganz ohne Zweifel. Aber hatte ich etwas von ihr gewollt? Oder sie von mir? Wir von uns? In mich hineinfühlend wollte ich nichts von ihr. Oder doch? Ok, wahrscheinlich doch. Aber eigentlich nicht.

Fortan rührte eine Frage in meinem Hirn: Warum nur muß man beim Flirten so ausdauernd Lachen und Scherzen? Alle Flirtenden machen das. Gut, einander anzuschnauzen wäre auch einfach zu schräg. Tatsächlich? Wie passt Necken zum Flirten? Zu meinem spekulativen Glück fiel mir sofort eine Beobachtung aus der Betriebssoziologie ein, wonach Menschen über penetrantes Dauergescherze, den berühmten "joking relationships", die Distanzen zueinander regeln. Sollte ausgerechnet das geschätzte, näheversprechende Scherzen beim Flirten als Distanzregulierer funktionieren? Eine Paradoxie, die nach Theorie schreit.

Nach einem Blick in die gängigen Lexika zum Begriff "Flirt" sammelten sich am nächsten Morgen natürlich keine sonderlich erhellenden Antworten an. Ich hatte auf irgendetwas in Richtung "widersprüchlicher Einheit von Nähe und Distanz" oder anderem zumindest dialektischen Gebräu gehofft. Stattdessen vergrößerten die Definitionsversuche, die allesamt unter Flirten eine Edelform des Anmachens verstanden, die Zahl der Fragen auf Schlag: Handelt es sich beim Flirten tatsächlich um eine "Kontaktaufnahme" oder "dem Bekunden der Zuneigung"? Worin besteht bitteschön der Unterschied zwischen Flirten und Anmachen? Obendrein ließen die Lexika durchgängig einfältig Lesben und Schwule außenvor.

Gegenwärtig sieht mein Angebot einer Definition des Flirts wie folgt aus: Beim Flirt handelt es sich um eine Beziehungsform zwischen genau zwei Menschen, die sich formal in einer annähernden Machtbalance befindet und inhaltlich sich weder auf Nähe noch Distanz festlegen läßt. Historisch ist der Flirt ein Produkt der Gleichstellung der Geschlechter.

Ein Flirt kommt allein bei symmetrischen Machtverhältnissen zustande und läßt sich weder wollen noch kontrollieren. Letzteres ist übel für diejenigen, die pauschal auf das Stiften einer Liebesbeziehung eingerichtet sind. Alles Mögliche kann beim Flirten passieren, nur eines nicht, nämlich daß einer der beiden weitgehend allein bestimmt, wo es lang geht. Beide machen ihr Handeln als Täter und Opfer in der Situation gegenseitig voneinander abhängig. Beide sind auf sich und den anderen angewiesen. Es existieren heute keine bequemen sozialen Schemata mehr, die in das moderne Machtgleichgewicht eine Asymmetrie hineinbringen, etwa von der Art, daß Er immer den riskanten entscheidenden Schritt beim Nachhausebringen zu wagen habe. Solche traditionellen Vorgaben von vor 100 Jahren mögen da und dort allerdings bis heute noch nachwirken. Zum Glück für die Flirtenden, wenn sie denn doch eine geklärte Liebesbeziehung wollen.

Das Wort "Flirt" taucht nach meinen Recherchen in Deutschland zum ersten Mal in Meyers Konversationslexikon von 1894 auf. Zu einer Zeit, als in den deutschen Großstädten der sportiv-faire englische Gentleman den heute albern wirkenden, polternd schneidigen Offizieren ersetzte. Zur Erinnerung: Zu dieser Zeit geriet das Wahlrecht für Frauen in Reichweite. Der scharfsinnige Berliner Zeitgenosse Georg Simmel schrieb damals einen Essay über die Koketterie, worin er zeigte, daß die Koketterie eine Art Kampfform der unterdrückten Frau sei, deren vermeintliche Souveränität in der Ausschüttung ihrer Gunst jedoch tatsächlich nur ein armseliges Surrogat für real fehlende Möglichkeiten der Selbstbestimmung war.

Mit dem Übergang von der Leitfigur "Offizier" zum "Gentleman" (ein Gentleman hält auch einem Kerl die Tür auf) geschah der Übergang vom unwürdigen Kokettieren, Werben und Prahlen zum freien Flirten. Im Unterschied zur Koketterie ist der Flirt gekennzeichnet durch eine Symmetrie der Möglichkeiten zur Machtausübung, die zugleich immer auch eine Bedingung für Selbstbestimmung ist. Beim Flirten verdreht nicht etwa Er ihr den Kopf oder Sie ihm, sondern beide verdrehen einander zugleich den Kopf. Beide stehen kopflos lachend und ein bischen blöde da.

Der Flirt teilt insofern nicht die Eindeutigkeit, wie sie sich im draufgängerischen Anmachen oder tappsigen Anbändeln, im formlosen Anquatschen oder angeberischen Aufreißen zeigt. Dies sind Machtspiele, geleitet vielfach von Vorstellungen nicht-paritätischer Ansprüche. Der Flirt läßt sich ebenfalls nicht einer knackig inszenierten Affäre, einer zarten Romanze oder einem bewußt gewählten Rendezvous (übrigens geht Rendezvous etymologisch zurück auf: "Bereitstellung der Soldaten zum Kriege") gleichsetzen, hier sind die Beteiligten bereits nahegekommen. Beim Flirt handelt es sich zugleich um mehr als einem bloß netten Gespräch, sei dieses möglicherweise auch noch so intim. Ich vermute, daß der Flirt zwischen Heterosexuellen erst ab etwa den 1960er Jahren in der vollen gesellschaftlichen Breite möglich wurde, weil zuvor kaum von einer allgemeinen, kulturell sich durchsetzenden Gleichberechtigung der Geschlechter die Rede sein kann.

Menschen, die ihre Welt unter einem Machtschema betrachten (in Organisationen: müssen), also entweder dominieren (müssen) und sich unterwerfen (müssen), können demnach schlicht nicht flirten. Weder all die professionell hierarchisch Wegsortierten während der Arbeitszeit noch die prototypisch kontrollfixierten Machos/ Machas oder die zeitorientierten Karrieremenschen oder die rasche Eindeutigkeit bevorzugenden Techniker/innen vermögen den Flirt auszuhalten. Ganz ohne tentativen Machtanspruch auf den Anderen geht es aber auch nicht, denn "Softies", die selbst nie nur zarte Ansprüche an andere Menschen zu stellen wagen, weil sie befürchten, daß bereits ihre bloße Anwesenheit auf dieser Welt für Mitmenschen einer Zumutung gleichkomme, vermögen ebenso wenig zu flirten. Gleichheit im sozialen Status, aber vor allem auch hinsichtlich der Attraktivität und des Alters, des Witzes, des Ironiegebrauches und des Sprachcodes, des Selbstkonzeptes und dergleichen mehr, sind flirtförderlich, zu (wie?) große Unterschiede darin flirthinderlich. Flirts unter Lesben und Schwulen stehen hiernach unter strukturell besonders guten Bedingungen. Um Einwänden gleich zu begegnen: Keinerlei Zweifel bestehen für mich, daß es lustvoll knistern kann zwischen einer 50-jährigen, großen und klugen Frau und einem 20-jährigen, kleinen und dämlichen Mann. Es mag sich bei ihnen alle wünschenswerte Geilheit dieser Welt einstellen - nur um diese geht es hier nicht. Ohne Gleichheit keine Flirts, allenfalls verzerrte Derivate oder besser: geringer differenzierte, traditional verlauste Beta-Versionen davon.

Und um was geht es beim Flirten thematisch? Ich vermute, es geht beim Flirten um einen Tanz zwischen Nähe und Distanz. Jede eindeutige Entscheidung auf einen der beiden Pole, deren Differenz ihn überhaupt erst entstehen läßt, beendet ihn, Anmache oder Trennung: Beide machen Schluß mit dem Flirt, endgültig und nicht mehr restaurierbar. Die Kunst des Flirtens besteht insofern gerade darin, ihn durch ein Wechselspiel von Anfassen und Loslassen, Näherung und Distanzierung, Kontaktaufnahme und Abschied, kurzem Kuscheln und Fauchen, als solchen fortsetzbar zu halten, ohne dabei diese als Strategien bewußt zu verfolgen. Strategien funktionieren nur unter Zielvorgaben, und Zielvorgaben zerstören den Flirt. Der Flirt kommt einem Kunststück gleich, das jede durchschnittlich vernünftige Katze ihren Haltern beibringt.

Proto-Flirter nutzen Schemata oder, traditioneller formuliert, Umgangsformen, die parallel zur offenbleibenden Hauptentscheidungslinie Nähe und Distanz angeordnet liegen. Scherzen, Lästern und Blicken sind solche Kämpfe auf Nebenschauplätzen. Sie liegen daneben, versprechen aber doch eine Rückrechenbarkeit, bspw. vom gelungenen Scherz auf geglückte Näherung. Ein Trugschluß, dem endlose Beziehungsquatscher gerne aufsitzen.

Einerseits ist das Lachen eine Trophäe der Anstrengungen, andererseits beendet das Lachen nach der Pointe für Momente die Beziehung: Es muß neu eingestiegen werden. Nicht immer gelingt das. Die Gefahr des Abrutschens in ein bloßes Gespräch bleibt latent vorhanden.

Beim Blickflirt wird das Zugleich von Nähe und Distanz augenfällig. Ein Augen-Blick zeigt die Näherung über die Distanz, ohne die Distanz tatsächlich zu verringern und ist wegen seiner Flüchtigkeit und "Ungefährlichkeit" ein besonders leicht sich einstellender Flirt-Starter. Das Liebäugeln in der belebten Fußgängerzone oder zwischen ihr im Auto und ihm im Bus vor der roten Ampel zeigen: Je sicherer die Distanz zwischen beiden (hier 2 Fensterscheiben + 1 drohender Verkehrstod), umso freundlicher, d.h. frecher und länger, darf dann auch der Blick sein. Ähnlich verhält es sich in der Diskothek oder bei festlichen Veranstaltungen: Je mehr Geländer, beladene Tische oder Menschenleiber zwischen beiden, desto gewagter und eindeutiger der schöne Augenblick. Die Grenzen sind klar. Wegen der sozialen Leichtigkeit und imaginativen Offenheit kann in einen kurzen Flirt-Blick mit integriertem Lächeln alles hineinphantasiert werden. Man flirtet dann halt mehr mit einer Idee als mit einer realen Person.

Ein Flirt ist angewiesen auf Räume und Zeiten, die keinem der Flirtenden einen Machtvorteil einräumt - genau das zeichnet öffentlich zugängliche Räume wie Kneipen, Warenhäuser, Tankstellen, Festlichkeiten und im besonderen das Eisenbahn-Abteil aus. Das Eisenbahnabteil ist geradezu die Materialisierung von Intimität und Distanz schlechthin. Schlecht sind Flirtumgebungen, die thematisch geschient sind: In Betrieben oder in Organisationen spricht man zu schnell über Naheliegendes, als daß man sich den Kopf gegenseitig verdrehen könnte.