Martin Rost
Publikationen

Erschienen ist dieser Text in:
Rost, Martin (Hrsg.), 1996: Die Netzrevolution - Auf dem Weg in die Weltgesellschaft, Frankfurt am Main: Eichborn-Verlag
http://www.maroki.de/pub/sociology/mr_kpek.html
1998.10.20, Version 1.1
Gegenüber der Papierfassung habe ich hier einige Fehler korrigiert (laut Duden schreibt man beispielsweise: E-Mail, nicht Email), Fußnoten in Endnoten gewandelt und einen den Text aktualisierenden Nachtrag zugefügt.


Koautoren per E-Mail koordinieren

Martin Rost

Ob ich etwas "Humanistisches" zum Thema Computernetzwerke schreiben möchte, fragte mich eines Morgens ein Lektor vom Eichborn-Verlag. Während ich das gewinnende Einkreisen der Idee am anderen Ende des Telefons vernahm, wurde mir klar, daß es eine Sammlung von Beiträgen alteingesessener Netzbürger sein sollte. Besonders reizvoll fand ich dabei die Vorstellung, mit vielen Coautoren zusammenzuarbeiten, die ich nur anhand ihrer guten Beiträge in den Newsgroups und Mailinglists kannte. Der Lektor hatte allerdings eher an eine Anthologie aus einer Hand gedacht, diese verkaufe sich besser... Am Ende ließ er sich aber von dem Argument überzeugen, daß es angemessen sei zu versuchen, in einem Buch zu Netzen das Netz selbst ein wenig zu simulieren.

Den Verlag im Sack und das Konzept entworfen, schickte ich einige Tage später E-Mails an meine Wunschautoren. Ich bat sie um einen Beitrag für dieses Buch, mit dem als Köder gedachten Hinweis, daß sie hier bitte ihre schönsten Pirouetten drehen mögen. Und tatsächlich bekam ich bei der Akquisition keinen Korb, auch wenn zum Schluß insgesamt drei der zugesagten Beiträge nicht eintrafen.

Ich mußte auf eine hohe Motivation der von mir angeschriebenen Spezialisten vertrauen, schließlich standen mir als Herausgeber keine überzeugenden und feinabstufbaren Sanktionen zur Verfügung, um die Chancen auf die eventuell kaum mehr erinnerbar zugesagte Abgabe der Beiträge zu erhöhen. Weder war das Honorar attraktiv, noch lag Publikationsdruck, unter denen Wissenschaftler stehen, vor, noch gab es ein alle verbindendes, ideologisch-politisches Band. Ganz im Gegenteil, womöglich unterschiedliche politische Ansichten wurden aus Vorsicht lieber nicht thematisiert. Als einzige leidlich wirkungsvolle Regelungsgröße meinerseits stellte sich das vertrauensvolle Neufestsetzen von Abgabeterminen heraus. Zwar erhielt jeder einen auf seinen Namen ausgestellten Vertrag, doch ein plötzliches Ausscheiden aus dem Projekt zog keine weiteren Folgen nach sich.

Eichborn rief mich zu einem Zeitpunkt an, als ich an meinem zweiten Computernetz-Buch (inszwischen ist es erschienen: Rost/ Schack 1995: Der Internet-Praktiker) schrieb und an dem 15 weitere Autoren beteiligt waren. Ich konnte deshalb die bereits vorliegenden Erfahrungen im Koordinieren von Coautoren über E-Mail in diesem neuen Projekt ausprobieren. Von diesen Erfahrungen lohnt es deshalb hier zu berichten, weil in Zukunft Projekte wie diese zunehmen werden, in denen Menschen mit einem Computernetz(Endnote 1) als Medium und Maschine (s. Esposito 1993), arbeitsteilig aber ohne die Stützung einer Organisation oder eines gemeinsamen Zeitrasters, gemeinsam aber ohne einen Raum zu teilen, Informationen verarbeiten. Wie leistungsfähig eine solche Form der Organisation sein kann, zeigt z.B. die Entwicklung des Betriebssystems Linux (s. den Beitrag von Olaf Titz in diesem Buch) und in ganz bescheidenem Maße auch das Zustandekommen dieses Buch.

1.1 Konventionen

Die Nutzung von E-Mail bietet Textverarbeitern ein Optimum an Zustellgeschwindigkeit und Weiterverarbeitbarkeit von Texten. Eine E-Mail ist zwar nicht schneller als ein Fax zugestellt, steht aber sofort zur Bearbeitung im Computer des Empfängers zur Verfügung. Diesen Vorteil der sofortigen Weiterverarbeitbarkeit böte ein per Brief zugestellter Text auf Diskette zwar ebenso, nur dauerte dessen Zustellung im nationalen Bereich zumindest einen Tag oder international durchaus einige Tage.

Der Zeitgewinn entsteht insbesondere dadurch, daß der Text des anderen nicht erst abgetippt werden muß, um einen schriftlichen Kommentar zu einer Passage seines Textes abgeben zu können(Endnote 2) Mit Nutzung von E-Mail werden Kommentare wahrscheinlicher, die sich auf einem frei wählbaren Auflösungsniveau, seien dies einzelne Worte, Sätze, Abschnitte oder der ganze Text, beziehen können. E-Mail macht es möglich, daß Texte, die schriftlichen Kommentare zu diesen Texten und die Kommentierungen der Kommentare innerhalb weniger Stunden weltweit ausgetauscht werden können. Dadurch entwickeln sich Diskussionen, die fast an die Dynamik von Gesprächen heranreichen, die aber zugleich die höheren Ansprüche an Argumentation einlösen, die historisch erst durch Schrift entstanden sind.

Ein technisches Problem bei der Zusammenarbeit über E-Mail besteht darin, daß die Autoren verschiedene Computersysteme, Betriebssysteme und vor allem Textverarbeitungsprogramme benutzen. Deshalb muß für Zusammenarbeit auf den kleinsten gemeinsamen Nenner des Zeichenstandards zurückgegriffen werden, nämlich auf den ASCII-Code. Sozial ist es nicht zuträglich, die Verwendung nur einer bestimmten technischen Ausstattung zur Voraussetzung der Teilnahme an einem gemeinsamen Projekt zu machen. Man hat mit großem Widerstand zu rechnen, wenn alle Teilnehmer auf ein bestimmtes Betriebssystem und ein bestimmtes Textverarbeitungsprogramm verpflichtet werden sollen. Der Nachteil der Ausgabe eines Textes im ASCII-Code besteht bekanntermaßen darin, daß die Textauszeichnungen - wie z.B. Schriftenwechsel, Überschriften-Kennzeichnungen oder Graphiken - verlorengehen. Dies machte es für mich notwendig, innerhalb des Zeichenvorrats des ASCII-Codes bestimmte Zeichen zu definieren, mit denen die Autoren Gestaltungsanweisungen mit ASCII-Zeichen in ihren ASCII-Texten notieren können. Ein Auszug aus unserer Liste mit Konventionen sah z.B. folgendermaßen aus:

  • Textformat
     
    • ASCII-Format / DOS-Umlaute
       
    • Als Anführungszeichen bitte " nehmen.
       
    • Keine Tab-Zeichen, sondern Leerzeichen verwenden.
       
    • Worte nicht trennen.
       
    • Zwischen Absätzen eine Leerzeile.
       
    • Kein Einrücken der ersten Zeile eines Absatzes.
       
    • Linken Rand _immer_ linksbündig- und rechten Rand auf 70 setzen. (So wie dieser Texte hier gesetzt ist, wäre es falsch!)
       
  • Text-Auszeichnungen
     
    • Mit Textauszeichnung ist zum Beispiel Fettdruck oder Kursivdruck gemeint. Wenn man einen Begriff herausheben möchte, dann kann man das mit {\it herauszuhebendes_Wort} veranlassen. Ein derart eingefaßtes Wort würde schräggestellt gedruckt werden.
       
    • {\tt Kennzeichnung_eines_Befehls}
       
  • Index
     
    • Worte, die im Index (manche Leute sagen dazu auch: Register) aufgeführt sein sollen, bitte kennzeichnen mit: {\idx Wort_für_Register} Beispiel: Man kann E-Mail auch aus {\idx Bürgernetzen} heraus in kommerziell-betriebene Netze schicken.
       
  • Überschriften
     
    • Überschriften, die in der Gliederung erscheinen sollen, sind folgendermaßen in ihrer Gliederungstiefe zu bestimmen:
      \section{}
      \subsection{}
      \subsubsection{}
      \paragraph{}
       
  • Fußnoten
     
    • Fußnoten mit \footnote{Text_der_Fussnote} kennzeichen. (Eine Fußnote ist nur dann gerechtfertigt, wenn eine andere Perspektive zu dem angesprochenen Themenbereich eröffnet wird.)
       
  • Dateinamen
     
    • Die Dateinamen der Texte sind auf höchstens sieben Zeichen vor dem Punkt zu beschränken, gefolgt vom Suffix txt. (wegen 8.3-DOS- Namenskonvention und der Notwendigkeit, Graphiken mit einem Zähler zu unterscheiden.)
       
  • Graphiken
     
    • Als Graphik-Datei-Formate nur verwenden: TIFF und EPS
       
    • Die Position im Text angeben mit: \input{Dateinamen_der_Graphik}
       
    • Unter alle Abbildungen (Graphiken, Tabellen...) sind Bildunterschriften anzufügen.
       
    • Die Graphik-Dateien sollten nur s/w-Abbildungen enthalten.
       
    • Die Namen der Graphik-Dateien sollen dem Namen der Textdatei entsprechen, wobei die Graphikdateien mit einem Zähler unterschieden werden können plus natürlich dem Suffix des Graphikformats.
       

Diese Liste mit den technischen Konventionen ist unvollständig. So ist z.B. nicht festgelegt, wie Tabellen gestaltet werden sollten. Auch fehlen, und dies ist bei Arbeitsteilung besonders wichtig, solche Zeichen, mit denen Autoren gezielt auf bestimmte Passagen in den Texten der anderen Autoren verweisen können. Für Probleme dieser Art gibt es allerdings seit längerem professionelle Lösungen. Hinzuweisen wäre da z.B. auf LaTeX (Lamport 1985), einem leistungsfähigen und betriebssystemübergreifenden Programmpaket zum Setzen von Texten, das sich im Bereich der Naturwissenschaften bereits durchgesetzt hat und dessen Verwendung einige Verlage voraussetzen.

Noch besser geeignet wäre die Verwendung von SGML ("Standard Generalized Markup Language", s. Szillat 1994), einer mächtigen und flexibel anpaßbaren Beschreibungssprache für Dokumentstrukturen, die selbstverständlich ebenfalls betriebssystemübergreifend zur Verfügung stünde. Mit diesen Programmen ist es zudem möglich, Veränderungen im Text automatisch durchführen zu lassen, wenn es z.B. darum geht, formale Anpassungen (wie z.B. die triviale übergreifende Durchnummerierung von Fußnoten oder Graphiken, die übergreifende Erstellung des Index oder die automatische Erstellung von Gliederungsverzeichnissen, ...) an die Texte der anderen Autoren durchzuführen.

Autoren, die ihre Texte bislang noch mit Schreibmaschine erfassen, meinen in der Regel, daß der Textsatz keine Angelegenheit mehr des Autoren sei und man sich aus gewerkschaftlicher Perspektive gegen die unentgeldliche Übernahme solcher Zusatzleistungen wehren sollte. Da ist was dran, insbesondere wenn man von der traditional gegebenen Arbeitsteilung zwischen Schreiben, Setzen, Drucken, Binden und Vertreiben ausgeht. Die zusätzlich erbrachte Leistung des Setzens muß selbstverständlich vergolten werden. Es ist allerdings auch im Interesse des Autoren, den Satz zumindest im Groben in der eigenen Hand zu behalten. Denn nur so ist es z.B. möglich, daß Autoren, die an einer gemeinsamen Publikation arbeiten, ihre Texte ohne zuviel Redundanz und langer Nachbarbeitungsphase ineinander verweben können.(Endnote 3) Und die neue Qualität, die aus der neuen Vereinigung erwächst, besteht darin, daß sich die logisch-dramaturgische Funktion eines jeden Satz auszeichnen läßt: Dies ist eine These, Begründung, Assoziation, ein Argument, Zitat, Kommentar.... Und dies ist wiederum die Voraussetzung dafür, um maschinelle Abstract-Generatoren oder Textbewertungssysteme auf Texte ansetzen zu können, wie sie im Zuge der Industrialisierung insbesondere der Selektion von Texten aus der Informationsflut nötig werden (s. meinen anderen Beitrag in diesem Buch: "Wissenschaft und Internet...")

Das Problem bei herkömmlichen Buchproduktionen ist natürlich, daß viele Verlage bzw. Setzereien technisch derzeit noch gar nicht in der Lage sind, Formate wie die von LaTeX oder SGML direkt zu verarbeiten. Man darf aber vermuten, daß es nicht mehr allzu lange dauern wird, bis ein gesellschaftlich weit durchgesetzter de-facto-Standard, der über alle Betriebssystem-, Programm-, Setzereien-, Druckereien- und Verlagsgrenzen hinweg gültig ist, durchgesetzt sein wird. Wenn es SGML nicht gelingt, dann vermutlich HTML ("Hypertext Markup Language", s. Morris 1995), einer Untermenge von SGML. Dies schon deshalb, weil HTML bereits zum de-facto-Standard im Bereich des elektronischen Publizierens in den Netzen geworden ist und alsbald in den Verlagen die Frage zur Tagesordnung gehört, in welchen Medien publizieren werden sollte. In auf Freiwilligkeit basierenden Projekten ist es allerdings sozial kaum möglich, seitens des Initiators auf das Erlernen und Berücksichtigen solcher Standards zu bestehen, wenn dies nicht einmal in Firmen oder Instituten gelingt. Es wird alsbald ein Qualitätsmerkmal von Textverarbeitungen sein, inwieweit sie SGML unterstützen. Weil SGML eine Art Grammatik für Dokumente bietet, spricht eigentlich nichts dagegen, daß SGML, wie schon die Grammatik einzelner Sätze, in der Schule gelernt wird.

Zurück zu den Problemen des Projekts. Eine weitere Konvention betraf die Kontrolle der verschiedenen Versionen der Texte. Im Kopf eines Beitrags wurden deshalb Kommentare von kritischen Lesern, die den Text im Ganzen betrafen, notiert. Ein Beispiel für solch einen Kopf, sah folgendermaßen aus:

%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%
%
% ip_3.asc
% Martin Rost (maro@maroki.netzservice.de)
%  940818, 941001, 941109, 950305, 950416, 950921
%
% MISC-950407
%  Durchgesehen, sporadische Rechtschreibkorrekturen
%  Womoeglich sollte das Ende an den Anfang, um etwas mehr noch zu
%  provozieren?
%
% KP-950509
%  Index-Zeichen rangesetzt.
%  Es fehlt noch die Einschaetzung von X.400
%
% IP-950521
%  Keine weiteren Kommentare, gut so.
%
%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%

Kommentare zu Passagen im Text wurden unter die Passage gesetzt und am Anfang einer Zeile mit einem % sowie den Initialien des Kommentators gekennzeichnet. Dadurch war es möglich, daß jeder Kritiker direkt in den Text des Autoren schrieb, Veränderungen vorschlug oder Korrekturen begründete. Und es war bei der Endredaktion leicht, sämtliche Kommentare in den Texten schnell herauszufiltern und automatisch löschen zu lassen.(Endnote 4)

Auch für dieses Problem der Versionskontrolle gibt es mittlerweile technische Unterstützung. So steht unter Unix z.B. das Programm RCS ("Revision Control System", s. Gilly 1992: 18-11) zur Verfügung, mit dem Programmierer seit je her ihre Programmtext-Versionen verwalten.

So weit zu den technischen Konventionen in diesen Projekten. Nun noch ein paar Worte zu den sozialen Problemen und deren Management.

1.2 Rituale...

Es stellte sich alsbald heraus, daß es wichtig war, das Eintreffen von Mails mit Texten, Kommentaren und Hinweisen jedesmal ausdrücklich zu bestätigen. Bei der Nutzung von E-Mail zeigt sich nämlich folgendes Problem: In Beziehungen mit Körperwahrnehmung, dazu zählt auch die Stimme am Telefon oder das Mienenspiel bei einem Bildtelefon, können die Beteiligten aneinander wahrnehmen, daß sie einander wahrnehmen. Ist der eine von beiden schwerhörig, taub oder nur müde und geistig abwesend, stellt der andere das schnell fest und kann seine Mitteilungen in anderer Form übermitteln. Bei E-Mail ist dies anders. Eine fehlende Reaktion des Empfängers kann für den Absender bedeuten, daß alles klargegangen ist und es keiner weiteren Kommunikation über die stattgefundene Kommunikation bedarf. Mit gleicher Wahrscheinlichkeit kann eine fehlende Reaktion bedeuten, daß gar nichts klargegangen ist und daß die E-Mail, statt beim vorgesehenen Empfänger zu landen, in den orcus digitalis gewandert ist. Insofern gilt es, den Eingang wichtiger E-Mails also lieber einmal zu viel als einmal zu wenig zu bestätigen. Auf der anderen Seite bedarf es aber auch des Vertrauens in das Medium E-Mail, weil es absurd wird, wollte man auch den Eingang der Bestätigung bestätigen, die womöglich ihrerseits bereits eine Bestätigung des Eingangs bestätigte. Es ist sicher von Vorteil, wenn allen Beteiligten klar ist, daß gelingende Kommunikation sehr unwahrscheinlich ist und deshalb besonderen Aufwands und Redundanz bedarf. Statt sich Bestätigungen zu schicken, ist es angeraten, häufiger E-Mails zu schicken, die eventuell nur der Festigung der sozialen Beziehung dienen...

Ein solches Wahrnehmungs- und Interpretationsproblem hat Folgen für die Lösung von Konflikten. Ernste soziale Konflikte, wie etwa das Verfehlen von vorgegebenen Themen, die rechtzeitige Abgabe von Texten oder die Neukonzeption nach Ausfall von Themen oder Autoren, waren nicht per E-Mail zu lösen. Krisen mußten wenn möglich durch Treffen unter körperlicher Anwesenheit oder zumindest durch Telefonate bewältigt werden. Selbst wenn ein Streit per E-Mail stattfand, so konnten beide Seiten lange eine Art Ping-Pong spielen, bei dem jeder dem anderen die strittige Entscheidung zuspielen wollte und sich selbst nicht festlegen mußte.(Endnote 5) Die einfachste Entschuldigung für Fehler besteht unter Nutzung von E-Mail darin, den Erhalt einer E-Mail zu bestreiten. Hier als Absender den Nachweis des Gegenteils erbringen zu wollen, ist nur mit viel Aufwand möglich. Jedoch: Sobald eine E-Mail nicht zugestellt wurde, weil die Adresse nicht stimmte, erhält der Empfänger in der Regel eine Fehlermeldung darüber. Insofern darf man als Absender nach dem Ausbleiben einer Fehlermeldung davon ausgehen, daß die E-Mail angekommen ist. Trotz des Erhalts muß der Empfänger nicht reagieren. Ein Mitarbeiter meines Internet-Providers hat deshalb ein Programm geschrieben, das in zunehmend kürzeren Abständen, bis hinunter zu einer Stunde, automatisch E-Mails an einen entscheidungsunfreudigen Empfänger schickt... diese Art der Penetration funktionierte sicher noch in jedem Fall, wie mir berichtet wurde.

Während ich das vorliegende Buch allein und zentral koordinierte, waren im Falle des Internet-Buch-Projekts eine Mailinglist und eine spezielle Mailbox für alle beteiligten Autoren eingerichtet worden. Die Mailinglist sollte der Diskussion und Koordination der Autoren untereinander dienen, die Mailbox dem Austausch umfangreicher Texte, Graphiken und Programme. Tatsächlich wurde die Mailinglist allenfalls am Anfang zur Diskussion über das Projekt insgesamt genutzt, ansonsten diente sie vor allem für Verkündigungen seitens des Verlages oder zum Einbrufen von Treffen oder vereinzelt für Fragen nach speziellen Informationen. Umfassend über das gesamte Projekt diskutiert wurde dagegen auf den extra anberaumten Treffen. Verbal lassen sich Probleme einfach am schnellsten lösen, schon weil ein Gespräch in der Regel opportunistischer verläuft als ein Schriftwechsel. Und weil die Mailbox überhaupt nicht genutzt wurde, haben wir sie nach einigen Monaten wieder geschlossen.

Dies alles erwähne ich deshalb, weil man eben nicht erwarten darf, daß eine gute technische Infrastruktur, selbst unter erfahrenen und bestens geschulten Anwendern, automatisch zur beabsichtigten selbstorganisierten und effektiven Nutzung der Technik führt. In einer Kritik zum Abschluß des Internet-Praktiker-Projekts wurde bemängelt, daß zu wenige Treffen stattgefunden hätten. Einige Mitglieder hatten aus der zeitweiligen Ruhe auf der Mailinglist sogar geschlossen, daß das Projekt gestorben sei. Es waren die wenigen Treffen, die das Projekt letztlich gerettet haben, weil sie der Gruppenbildung dienten. Solche Treffen sind bei größeren Projekten, deren Durchführung lange braucht und die nicht nur Spaß bringen, offenbar notwendig, damit die Beiteiligten einander signalisieren können, daß ein jeder in das Projekt vertraut. Und das heißt genaugenommen, daß jeder in das Engagement der anderen Beteiligten vertraut und selbst Anlaß zur Vertrauensbildung geben möchte. Das was mit E-Mail als Kommunikationsmedium unsinnig erscheint, nämlich sich permanent zu bestätigen, daß man einander wahrgenommen hat, findet unter körperlicher Anwesenheit statt, und zwar schnell, weitgehend unbemerkt und auf vielen Kanälen. Nur wenn die Koordination bidirektional erfolgt und jeder Coautor allein mit dem zentralen Koordinator verbunden ist, reicht E-Mail zur Koordination aus.

Solche Treffen dienen nicht der Kommunikation von Fakten, diese funktioniert vorzüglich per E-Mail, sondern der Herstellung einer Gruppe. Deshalb empfiehlt es sich pragmatisch, ein Projekt mit einem für alle attraktiven Fest beginnen und enden zu lassen. Auch wenn man ansonsten sich wünschte, daß zur Vertrauensbildung kein Rückfall mehr in archaische Sozialformen nötig wäre... noch sind diese in Rechnung zu stellen.

1.3 Endnoten

1: Im folgenden wird nur im Singular von "Netz" gesprochen, im Sinne eines für den Anwender logischen Zusammenhangs. Eine E-Mailadresse ist eine E-Mailadresse, ganz gleich, welche Technik zwischen Sender und Empfänger zum Einsatz kommt.

2: Und es ist auch kein Problem mehr, gesprochene Kommentare zu Texten als Sounddatei anzufügen.

3: Es sei daran erinnert: Erasmus von Rotterdam (1466(oder: 1469)-1536) teilte den Raum (das "Offizin") noch mit Setzer und Drucker (vgl. Huizinga 1988).

4: Vielleicht wagen wir es in einem anderen Buchprojekt, die manchmal spannenden und lehrreichen Kommentare und Kommentarkommentare einmal stehen zu lassen. Für einen kurzen Moment spielten wir bei einem Beitrag mit dem Gedanken...

5: Diese Beobachtung machte auch ein Mitarbeiter von Sun Microsystems, einem Hersteller von Workstations, bei dem seit vielen Jahren E-Mail zur betriebsinternen (und das heißt: weltweiten) Kommunikation eingesetzt wird, anläßlich eines Vortrags zu den 1. Kieler Netztagen 1993 (s. Schönleber 1993). Nur in einem Fall gelang es mir, einen deftigen Konflikt per E-Mail beizulegen, vermutlich weil wir beide den Ehrgeiz hegten, außer E-Mail kein anderes Medium zur Kommunikation zwischen uns einzusetzen.

1.4 Literatur

Esposito, E., 1993: Der Computer als Medium und Maschine; in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 22, Heft 5, Oktober 1995: 338-354

Gilly, D., 1992: Unix in a nutshell: O'Reilly

Huizinga, J., 1988: Erasmus, Basel: Schwabe

Lamport, L., 1985: LaTeX - A Document Preparation System: Addison-Wesley

Morris, E. S. M., 1995: HTML - WWW effektiv nutzen, 1. Aufl., Hannover: Heise-Verlag

Rost, M./ Schack, M. 1995 (Hrsg.): Der Internet-Praktiker, Referenz und Programme, Hannover, Heise-Verlag (http://www.ix.de/buch)

Schönleber, Cl., 1993: 1. Kieler Netztage, Verlag Claus Schönleber

Szillat, H., 1994: SGML - Eine praktische Einführung: International Thomson Publishing

1.5 Nachtrag vom 1998/10/20

Noch immer empfiehlt es sich dringlich, bei Umlauten und Dateinamen den kleinsten gemeinsamen Format-Nenner zu wählen, sofern ein ergonomisch besserer Standard nicht mit jedem der Beteiligten abgeklärt werden kann.

Inzwischen hat sich HTML so breit durchgesetzt, daß man jedem Autoren das Benutzen von HTML-Markups zumuten kann, auch wenn man sich zur Kennzeichnung von Fußnoten noch immer selbst etwas stricken muß.

Neben HTML wäre UDO zu erwähnen. UDO ist ein Dokumentationssystem, mit dem sich viele strukturelle Aspekte der Dokumentverarbeitung automatisieren lassen. Vor allem bietet UDO eine Meta-Markup-Language, die sich in eine ganze Reihe von anderen Markup-Languages transformieren läßt (so u.a. HTML, Linuxdoc-SGML, RTF, groff, LaTeX, WinHelp...).

Wie prophezeiht, scheint sich das SGML-Konzept in Form von XML durchzusetzen. Die Großen der Computer-Branche haben jedenfalls erklärt, XML zum universalen Dokumentformat zu erheben. Die Bedeutung der Technisierung insbesondere des Strukturaspekts von Dokumenten für Organisationen und Gesellschaft, etwa als Folge der weltweiten Implementation von XML, ist dabei kaum zu überschätzen - Text.