Martin Rost
Publikationen

Realität der Virtualität - Aufklärungen zur Mystik des Internet

Peter Fuchs

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Übersicht

Vorbemerkung

Kommunikation verfügt seit einiger Zeit über neue Möglichkeiten. Jedenfalls sagt man das, seitdem es die elektronische Datenverarbeitung in einer Form gibt, die weltweite Austauschprozesse zuläßt unter Beteiligung von Privatpersonen. Diese Form, das ist jenes nahezu mystisch erscheinende Netz, diese globale Verschlingung, die die Eigenschaft des Unkontrollierbaren hat, eine Art neuer dunkler Gott, dem geziemenderweise Tribut gezollt wird in einer unabsehbaren Fülle von wissenschaftlichen, artistischen, intellektuellen Beschwörungen.(Fußnote 1) Dies gibt es also wieder, das Numinosum, und weil die Begriffe fehlen, stellen sich Worte in Fülle ein, solche wie die, die im ersten Teil des Titels unserer Überlegungen stehen, bei denen aber offengelassen ist, ob die Unterscheidung durch einen Genitiv oder durch einen Dativ arrangiert ist.

Jene Fülle jedenfalls macht es schwer, einfach zu werden, also Begriffe zu nutzen und nicht nur Wörter. Der erste Schritt zur Einfachheit ist gemeinhin eine Einschränkung. Die Einschränkung in diesem Fall liegt in der zunächst vagen Einschätzung, das Internet, das Netz, sei ein soziales Phänomen. Eine zweite Einschränkung ergibt sich daraus, daß aus den Theorien, die sich in der Disziplin, die für soziale Phänomene zuständig ist, finden, eine ausgewählt wird, deren Anspruch es ist, universaler Erklärungsansatz für alle sozialen Phänomene zu sein: die soziologische Systemtheorie.(Fußnote 2) Der Grad an Allgemeinheit, der durch die zweite Einschränkung entsteht, schließt aus, daß es im Weiteren um Techniksoziologie geht. Es geht um weniger, aber damit auch um mehr.

Das System, das ein Netz ist, das ein System ist

Wir haben das Wort Netz kursiv gesetzt. Denn die Systemtheorie ist keine Netztheorie. Sie handelt von Systemen. Wenn das Netz ein Netz ist, sind alle folgenden Überlegungen hinfällig. Wenn nicht, greift die zentrale Unterscheidung der Theorie, die Unterscheidung des Systems, also die Differenz von System und Umwelt. Nur dann wird man fragen können, wie sich ein Zusammenhang von Kommunikationen in einer Gesellschaft, die sich selbst kommunikativ verfertigt, ausdifferenziert, wie also ein solcher Zusammenhang, der aus nicht spezifischem ´Material´ besteht (Kommunikationen) sich dennoch spezifiziert und ein Diskriminierungsvermögen entwickelt, mit dem er Dasselbe von Demselben unterscheidet.(Fußnote 3) Anders ausgedrückt: Wenn das Netz ein System ist, dann muß es über eine Grenze verfügen, über einen Innen/Außen-Unterschied, der von Innen kontrolliert wird.

Blickt man auf das, was in diesem Netz an Kommunikation läuft, scheint eine Grenzbestimmung (die ja immer zugleich eine Unifikation ist) nahezu unmöglich. Was immer kommunikativ behandelt werden kann, findet sich auch dort, kein Thema ist ausgeschlossen. Die Kommunikationen aller Funktionssysteme durchkreuzen das Netz. Sogar intime Komunikation kann gepflegt werden und die alte Form der Fernstenliebe oder die neue Form der Fernstensexualität annehmen. Die Themen liefern mithin keine Anhaltspunkte für Grenzen des Systems. Was aber dann?

Nun muß nicht alles, was ein System genannt wird, auch autopoietisch organisiert sein. Man könnte ja erst einmal vom Einfachsten, von der Technik ausgehen, also vom Betriebsmodus einer Maschine, deren Eigentümlichkeit darin besteht, daß sie immer angeschaltet ist von irgendjemanden (also unentwegt Umweltkontakte unterhält), aber genau deswegen immer im Blick auf die Umwelt zwei Zustände unterscheiden muß: Eingeschaltet/Ausgeschaltet oder Drinnen/Draußen oder Angeschlossen/ Nichtangeschlossen. Das kann man, ohne gleich in Abgründe der Theorielosigkeit zu fallen, durchaus in einem physischen Sinne verstehen. Dann sähe man nämlich, daß das System Netz eine seltsame, ja beunruhigende Eigentümlichkeit hätte. Es wäre im Blick auf seine Grenze allopoietisch verfaßt, es disponierte nicht selbst über seine Innen/Außen-Differenz. Die Grenze wäre also tatsächlich in gewisser Weise technisch. Das System könnte nicht (wie etwa Interaktionssysteme, Organisationen oder Funktionssysteme) darüber befinden, welche Kommunikation als Innenereignis verbucht werden kann, welche nicht. Es könnte auch keine Entscheidungen fällen im Blick darauf, wer oder was als soziale Adresse im Netz zulässig ist oder was an Kommunikabilien eingeschlossen, was ausgeschlossen wird. Es wäre, wie man auch sagen könnte, genau nicht indifferent codiert. Versuche der Normierung, der rechtlichen Kontrolle, der Exklusion von Adressen sind meines Wissens bislang weitgehend gescheitert, und wenn es stimmt, daß die Grenze das einfache An/Aus ist, dann wären entsprechende Versuche nur dann erfolgreich, wenn das System ausgeschaltet würde, aber wie sollte das unter anderen als extrem totalitären Bedingungen möglich sein?

Wenn die Grenze allopoietisch definiert wird, dann erscheint das System registerförmig zu werden. Die Umwelt hängt, wenn ich so sagen darf, in das Register des Systems Mitteilungen ein(Fußnote 4), alle möglichen Formen gesellschaftlicher Kommunikation, ohne daß das System eine Kontrolle darüber hätte, und die Frage ist dann sofort, ob es dann nicht Sinn macht, den Begriff Sozialsystem zu vermeiden. Das Sozialsystem ist schließlich unter modernen Theoriebedingungen keine bloße Registratur, obwohl der Begriff seine Karriere in solchen Zusammenhängen begonnen hat.

Wenn man aber darauf insistieren will, daß das Netz in Wahrheit ein soziales System sei, dann muß das Register in sich selbst auf sich selbst reagieren können. Es müßte eine Art von Eigensensibilität entwickeln können, mit der es sich unabhängig vom An/Aus prozessiert, mit der Kommunikationen (woher immer sie eingespeist werden) auf spezifische Anschlüsse hingetrimmt werden, die nur solche des Systems und nicht auch solche der Umwelt wären. Es dürfte sich nicht einfach nur darum handeln, daß ungezählte Mitteilungen in einem technoiden Medium ungezählten Beobachtern zur Beobachtung exponiert würden.

Mir scheint, daß jene Spezifik und diese Eigensensibilität ihre Quelle haben könnten in der Struktur der (Hyper)links, also in der Möglichkeit, von jedem Text/Bild aus gleichsam durchzustechen in andere Texte/Bilder mit weiteren links. Eben dies macht die Metapher des Surfens so plastisch. Das Register hat, so könnte man formulieren, die Form von Sinn, die Struktur eines offenen Verweisungshorizontes, wobei die Verweisung aber ein unmittelbares Durchstoßen auf das, worauf verwiesen ist, darstellt.(Fußnote 5) Man könnte das ein operatives Verweisen nennen. Wenn das so ist, liegt es nahe, die Autopoiesis des Systems, dem wir eben eine allopoietische Grenze zugemutet haben, in der Produktion und Reproduktion von Operationen zu vermuten, die Verweisungen sind, oder genauer noch: Die elementare Einheit des Systems wäre die Operation (und ich bitte um Vergebung für die seltsame Ambiguität des Wortes) des linkens.(Fußnote 6)

Aber wir müssen uns an dieser Stelle noch nicht festlegen, denn jenseits der Frage, ob dieses linken die Elementaroperation eines sozialen Systems sei oder nicht, können wir mit der Unterscheidung von Form und Medium arbeiten und versuchsweise sagen, daß das Netz auf einer lose gekoppelten Menge von Elementen (Mitteilungen, utterances) arbeitet, also auf einem Heider-Medium, und in dieses Medium durch die Technik des operativen Verweisens Formen einschreibt, also strengere Kopplungen(Fußnote 7). Die links, das linken, das sind die Strukturen bzw. Prozesse, durch die die Metapher des Netzes gerechtfertigt erscheint, durch die sie aber zugleich obsolet wird, wenn man nicht geneigt ist, die Netzmetapher als gelungenes Bild für die Selbsttransformation eines Systems aufzufassen, das in jeder (gedankenexperimentell angesetzten) Zeitscheibe seine Spezifik in den durchgeführten Verweisoperationen hat und sicher nicht: in den kommunikativ behandelten Themen selbst.(Fußnote 8) Denn die sind (und wir werden sehen, daß das nicht unwichtig ist) eben von jener Heterogenität oder Heterotopie, die für die Gesellschaft typisch sind, und liefern deshalb kein Merkmal einer Unterscheidung von Netz und Gesellschaft.

Die Autopoiesis des Internet

Das Medium, das sind Mitteilungen von Informationen in großer Menge. Das sind die in das Register gehängten Mitteilungen, die sich (unter nahezu vollständigem Verzicht auf Intimitätsmöglichkeiten) einer ubiquitären Beobachtung aussetzen, psychischer Beobachtung ohnehin, aber auch der sozialen Beobachtung, das heißt: der Produktion von Anschlußereignissen. Auf das Einhängen kann mit weiteren Einhängungen reagiert werden. Und es ist schwer zu sehen, worin hier ein Unterschied zwischen den Verfahren gesellschaftlicher Kommunikation und der Netzkommunikation gefunden werden könnte. Gewiß stößt man auf Unterschiede zwischen dem, was an Interaktion gewöhnlich geschieht, also auf Unterschiede zwischen der Präsenz und der Nichtpräsenz von Körpern, Unterschiede also im Blick auf Wahrnehmungsmanagement, aber auf diese Unterschiede kommt man auch dann, wenn man sich klar macht, daß gerade diese Unterschiede die Ebenendifferenz von Interaktion und Gesellschaft markieren und so sonderlich überraschend nicht sind. Sicher ist es eine interessante Frage, wie diese Ebenendifferenz im Netz ausgearbeitet wird, welche Modifikationen sachlicher, zeitlicher, sozialer Art sich einstellen, aber dies alles gibt noch keinen Anlaß, eben dieses Netz für etwas so anderes zu halten, daß die Analyseinstrumente geändert werden müßten.

Man könnte aber auch überlegen, daß die Anschlüsse im Netz, die die klassische Form von Kommunikation kopieren (jemand sagt etwas, fragt etwas, schreibt etwas, zeigt etwas, und jemand anderer produziert Lärm, der vom Sozialsystem als Anschluß begriffen wird), möglicherweise so etwas wie Restbestände konventioneller Kommunikation sind, eine Art anachronistisches Parasitentum, und gerade nicht das, wodurch sich das System spezifiziert und eine andere als rein technische oder allopoietische Innen/Außen-Differenz erzeugt.(Fußnote 9) Wenn wir dabei bleiben, daß die besondere Operation das linken ist, dann müßte aber eben dieses operative Verweisen, dieses Durchstechen, Moment der Kommunikation sein (sonst könnten wir nicht von einem Sozialsystem sprechen), und die Frage ist dann, in welcher Weise denn die Syndosis von Information, Mitteilung und Verstehen (also Kommunikation) in der Weise des linkens nichtklassisch oder nichtkonventionell geformt sein kann.

Die Autopoiesis der Kommunikation ist ein Zeitphänomen. Eine Mitteilung ist sozial verstanden, wenn ein Anschlußereignis sie als bestimmte identifiziert, als bestimmt gemeint, als über Bestimmtes informierend. Die Zeitform ist dann die der Verschiebung, des Nachtrags, des Aufschubs, der diffèrance.(Fußnote 10) Im Netz ist, wenn wir hier erst einmal asketisch argumentieren dürfen, der operative Verweis der Vorgang, durch den eine Mitteilung an eine andere gebunden wird, die in der Zeit des Benutzers auf sie folgt, aber dann gerade nicht die vorangegangene Mitteilung spezifiziert oder identifiziert, so als ginge es um sie, sondern als ginge es um den operativen Verweis selbst.(Fußnote 11)

Oder anders gesagt: Das Anschlußereignis schließt an einer Mitteilung in der Mitteilung an. Die operative Ebene des Systems Netz liegt nicht auf der Ebene der Dokumente, sondern auf der Ebene eines Dokumentes im Dokument, einer Sinnofferte sui generis, die in weitere Dokumente desselben Typs führt. Die Dokumente der ersten Ebene (diese Mitteilungen) sind im Blick auf den operativen Verweis völlig arbiträr. Auf den Dokumenten der zweiten Ebene wird die Information mitgeteilt, daß man und wohin man durchschalten kann, und das Durchschalten ist das Ereignis, die basale Operation des linkens, in der verstanden (durchgeschaltet) wird im Rahmen eines Selektionsraums weiterer Verweise oder nicht verstanden (ausgeschaltet) wird.(Fußnote 12)

Das ist nun ein sehr wichtiger Befund: Die Mitteilungen (Dokumente) des Netzes eröffnen auf der Ebene ihrer Faktur zeichenhafte Durchgriffsmöglichkeiten auf andere Dokumente mit zeichenhaften Durchgriffsmöglichkeiten auf andere Dokumente...(Fußnote 13) Über die Mitteilungen, die ins Netz gehängt werden, stülpt sich ein zweiter Kombinationsspielraum, für den dann genau gilt, daß er seine Kombinationen ausschließlich systemintern produziert. Diese Prozesse laufen nur auf der Innenseite des Systems, sie laufen nicht aus dem Netz heraus, sie erfüllen mithin die Bedingung operativer Geschlossenheit.(Fußnote 14) Und diese Prozesse sind nun genau in dem Sinne Kommunikationen, daß sie aus gleichsam sehr kleinräumigen, in die Dokumente eingestreuten Mitteilungen bestehen (die durchaus m ehr oder weniger forciert erscheinen können), deren Sinnofferte das Durchschalten zu weiteren Mitteilungen desselben Formtyps und deren Information jenes Minimum an Fremdreferenz darstellt, das notwendig ist, um aus der Differenz das Verstehen zu errechnen. Das Erzeugen von Verstehen ist die Operation des linkens, dies und nicht mehr und nicht weniger.

Das ist nun die Stelle, wo wir (aufatmend) die Metaphorik des Netzes endgültig verlassen können. Wir haben es mit einem sozialen System zu tun, das mit eigenen Operationen (Kommunikationen) weitere Operationen produziert, die weitere Operationen produzieren, und dies in autopoietischer Geschlossenheit, die es sich leisten kann, indifferent gegenüber dem zu sein, was die psychische Umwelt ins Register als Dokument der ersten Ebene einklinkt.

Die Funktion des Systems

Das Netz ist ein soziales System. Das gestattet es, seine Analyse mit den Mitteln fortzusetzen, die der soziologischen Systemtheorie zur Verfügung stehen. Zum Beispiel hindert uns nichts mehr daran, zu fragen, ob dieses eigentümliche System eine Funktion hat. Schließlich liegt es nahe, daß der nachgerade drastische und globale Erfolg des Systems mit seinen explodierenden Zuwachsraten einen weltgesellschaftlichen Bedarf befriedigt, so sehr, daß selbst das Erziehungssystem dafür plädieren muß, die das Internet fundierende Kommunikationstechnik Schulkindern verfügbar zu machen (als ob die das Problem hätten, das viele Lehrer noch haben).

Im Sinne einer gleichsam listigen Freiheit gegenüber theoretischer Orthodoxie koppeln wir uns bei der Bearbeitung dieser Frage davon ab, ob sich das System als Funktionssystem durch einen binären Code oder durch ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, durch symbiotische Mechanismen oder durch Selbstbefriedigungsverbote zu erkennen gebe.(Fußnote 15) Stattdessen nehmen wir das Fehlen all dieser Merkmale als das, wodurch wir uns überraschen lassen. Wir finden beim besten Willen keinen Code, keine totalisierende Unterscheidung, sondern nur eine spezifische Operation. Wir finden kein Medium, mit dessen Hilfe sich unwahrscheinliche Sinnzumutungen ratifizieren lassen. Stattdessen zeigt sich ein System, das thematisch nichts ausschließt, das (wenn man so will: an seiner allopoietischen Seite) gerade nicht indifferent codiert ist und eine nahezu absolute Permeabilität für alles, was kommunikabel ist, anbietet. Das System ist gesellschaftsoffen und erreicht, wie wir gesehen haben, operative Geschlossenheit nur in der operativen Verweisung, die den Dokumenten der ersten Ordnung implementiert ist. Es ist, wie man sagen könnte, beinahe wie die Gesellschaft, und es ist nur im Blick auf seine Operativität anders als die Gesellschaft in der Gesellschaft. Eben das kann zu der Vermutung führen, daß das System nicht ein Partialproblem der Gesellschaft bedient, sondern an einem Problem kondensiert, das genuin mit der Form der modernen Gesellschaft zusammenhängt.

Diese Form, das ist die der funktionalen Differenzierung, die innergesellschaftliche Ausprägung von Funktionssystemen wie Wissenschaft, Wirtschaft, Recht, Religion, Kunst, Politik etc., deren Besonderheit darin besteht, daß sie (jedes für sich) einen totalisierenden Weltzugriff unterhalten, das dann mittels eines binären Codes, der ihre Exklusivität sichert im Blick auf ihre jeweiligen Funktionen. Die Welt wird zerlegt in wahr/unwahr, Haben/Nichthaben (Zahlung/Nichtzahlung), Recht/Unrecht, Immanenz/Transzendenz, Kunst/Nichtkunst, Innehaben-von-Ämtern/Nicht-Innehaben von Ämtern etc.(Fußnote 16) Diese primäre Form der Differenzierung löst das Problem aus, daß über all diese totalisierenden Weltzugriffe keine ihrerseits jene Totalisierungen totalisierende Supercodierung gelegt ist.(Fußnote 17) Das ist das Problem der Polykontexturalität der Gesellschaft, das in zwei Richtungen ausgearbeitet werden kann, die eng miteinander zusammenhängen.

Die eine Richtung bezieht sich darauf, daß die moderne Gesellschaft keinen superlegalen Beobachter kennt. Jede Beobachtung, die in ihr geschieht, kann von anderen Stellen aus anders beobachtet werden, und nirgends ist eine Rangordnung des Besser-Beobachtens eingezogen. Es gibt, wie man auch gesagt hat, keine Einfachereignisse, über deren Ontologie oder Identität eine zutreffende Aussage gemacht werden könnte, sondern nur mehr Mehrfachereignisse, deren (revidierbare) Konturen perspektivengebunden entstehen , und zwar so, daß die Perspektivität oder der Ort der Projektion mitgesehen werden kann. Alle Beobachtungen sind kontingent geworden, auch die, die im Rahmen einer hinreichend komplexen Theorie diesen Befund selbstreferentiell bezeichnet im Rahmen eines dezidierten, weil instruktiven performativen Widerspruchs.

Die zweite Richtung nimmt diesen Befund auf und formuliert, daß auch die Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung der Gesellschaft kontingent geworden ist. Das sieht man deutlich an jener operativ mitlaufenden Selbstbeobachtung der Gesellschaft, die durch die Massenmedien exerziert wird.(Fußnote 18) Entscheidend ist, daß unter diesen Voraussetzungen auch nicht die Beobachtung der Einheit der Gesellschaft gelingen kann, also kein Instrument (kein Syndrom von Unterscheidungen) existiert, mit dessen Hilfe sich angeben ließe, wie die Einheit der Gesellschaft in der Gesellschaft nichtkontingent kommuniziert werden könnte - außer als unabschließbare Vielheit oder als bloße Referenz auf die basale gesellschaftliche Operation, die Autopoiesis der Kommunikationen, die eine Welt von Sinnheterotopien erzeugt, mithin auch den systematischen Ausfall von Weltbildern und Weltanschauungen, die die auseinanderlaufenden Linien zusammenziehen könnten, ohne zugleich auf drastische Weise Simplifikation zu sein, und zwar offenkundige Si mplifikation ohne die Chance globaler Durchsetzungsmöglichkeiten, allenfalls mit der Chance befristeter Stabilisierung totalitärer Segmente der Weltgesellschaft.

Diese neuartige (und deshalb moderne) Lage ist aber nicht unbedingt ein Problem der Gesellschaft.(Fußnote 19) Die Kommunikation läuft, und sie läuft im Ausfall genereller Limitationen immer leichter, geradezu unbeschwerter, und wenn in ihr mitgeteilt wird, daß Krisenhaftes geschehe, dann augmentiert und amplifiziert sie sich: Sie schwillt an und differenziert im Anschwellen Differenzen.(Fußnote 20) Und es gibt keine Instanz, keinen Begrenzer, keine repraesentatio identitatis, die sie stoppen könnten - Bis auf eine Kleinigkeit: daß sie nämlich den Lärm benötigt, den die psychische Umwelt produziert. Das ist strukturierter Lärm historischer Maschinen mit begrenzter Informationsverarbeitungskapazität, mit im Blick auf die Gesellschaft geradezu abenteuerlich geringer Komplexität, die sich nicht additiv behandeln läßt, denn der Verbindungsmodus dieser Singularitäten, das ist ja schon Kommunikation - also der Komplexitätsaufbau einer sozialen Sphäre, die sich gerade nicht an wirklichem Bewußtsein, sondern an dem, worin und in welchen Formen sie es unterstellen kann, orientiert. Und gerade dann, wenn die Gesellschaft polykontextural wird, kann sie sich nicht mehr stützen auf die Unterstellung verläßlicher, typenfester, parallelisierbarer Bewußtseine. Sie kann kein Modell einheitlichen Bewußtseins (etwa in der Form universaler Vernunft) erzeugen und aufrechterhalten, das nicht gegen- oder fremdbeobachtet würde. Alle diesbezüglichen Modelle sind offenbar gescheitert und mit ihnen alle universalen Moralprätentionen.

Die Folge ist, daß die Kommunikation entweder individuelles Bewußtsein überberücksichtigen muß (entsprechende zeitlangsame Formen haben sich etwa in der Psychoanalyse und allem, was ihr nachkam, eingestellt, Formen, die aber Bewußtsein in seiner Eigenmacht unterbrechen)(Fußnote 21) oder Formen begünstigt, in denen es auf idiosynkratisches Bewußtsein kaum noch ankommt. Das wären hyperautonome Formen der Kommunikation, und die These lautet dann: Das Netz, das ein soziales System ist, ist die vorab ultimate Begünstigung dieser Form. Es ist das Sozialsystem in der Weltgesellschaft, das die Unterstellung idiosynkratischen Bewußtseins minimiert trotz laufender Berücksichtigung des Lärms, den ungezählte Bewußtseine produzieren.

Der Entzug des Bewusstseins

Anders als die Massenmedien, die im gleichen Trend liegen (insofern sie sich an unspezifizierte Vielheiten wenden), aber es noch nicht geschafft haben, Interaktivität in einem mehr als rudimentären Sinne einzuführen(Fußnote 22), ist das System, von dem wir reden, so gebaut, daß es jeden beliebigen Lärm an seiner offenen allopoietischen Grenze durchläßt, vor allem auch privaten Lärm, also den vieler Leute. In diesem Sinne haben wir von einem Register gesprochen, in das jeder Dokumente der ersten Ordnung einhängen kann, von der Luhmann-Liste bis zur Kinderpornographie, der Papst ebenso gut wie Mandy Küstrin aus Mecklenburg-Vorpommern. Auf diese Weise realisiert das System Gesellschaft, ihr Und-so-und-immer-weiter, ihre Moden, ihre Themen, die Kommunikation von aktuellen Befindlichkeiten oder nostalgischen Sehnsüchten.(Fußnote 23)

Der Entzug von Bewußtsein, er findet auf der Ebene des operativen Verweises statt, auf den links über den Dokumenten, auf der Ebene eigener (schalterförmiger) Mitteilungen in den Mitteilungen, und Entzug, das heißt im Prinzip, daß die Kommunikation auf die ser Ebene im Grunde nur noch einen gleichförmigen (schalterbedienungsfähigen) psychischen Hintergrund voraussetzen muß, der nicht spezifisch wird, der nicht idiosynkratisch gerinnt.

Man kann sich den Vorgang verdeutlichen, wenn man mitsieht, daß auf der Ebene der Kommunikation unentwegt das katalytische Problem anfällt, wer denn als Verfertiger einer Mitteilung in Frage kommt, wer oder was als soziale Adresse konstruiert werden kann.(Fußnote 24) Die Kommunikation ist offenkundig darauf angewiesen, daß sie genau diese Selbstsimplifikation vornimmt, indem sie Akteure (Mitteilende) identifiziert, ihre invisible Synthese gleichsam in einem Material ausbremst, an dem die psychischen Systeme Kommunikation beobachten können und an dem sie selbst (in der Folge ihrer Konstruktion) Struktur gewinnt.(Fußnote 25) Diese Konstruktionen, auch das wird jedem Soziologen einleuchten, variieren diachron und synchron erheblich, sie ko-variieren aber vor allem und entschieden mit dem Wechsel der Differenzierungsformen der Gesellschaft in der sozialen Evolution. So kann man zeigen, daß archaische Gesellschaften sich in hoher Unsicherheit darüber befinden, wer adressabel ist, weil das auch Geister, Tiere, Bäume sein können. Sie mußten also Umgang pflegen mit unplausibler Selbstreferenz.(Fußnote 16) Die stratifizierte Gesellschaft des europäischen Mittelalters entwickelt etwas, was man die flache oder kontinente Adresse nennen könnte, einen relativ orientierungssicheren Zusammenhang, der über Schichtzugehörigkeit reguliert wird.(Fußnote 27) Und die funktional differenzierte Gesellschaft schafft sich inkontinente Adressen, die nur noch über Namen gebündelt werden und in dieser Bündelung heterogene Adressierungssegmente zusammenfügen, virtuell und befristet, wenn man so will und gegen alle Identitätszumutungen, die auf Dauer setzen wie etwa das Konzept des Charakters oder der Persönlichkeit.

Das soziale System, von dem wir hier reden, benötigt keinerlei Strategien der Identitätszumutung. Von den Dokumenten erster Ordnung kann ein Beobachter noch durchschließen auf denjenigen, der mitteilt. Text kann gelesen, Bilder können betrachtet, beides in Kombination goutiert werden. Die auf Kulturtechniken basierenden Kommunikationsinstrumente funktionieren, wie sie es auch in einer Bibliothek tun, in einer Videothek, in einer Mediothek. Aber im Augenblick, in dem der operative Verweis ins Spiel kommt, geht die kommunikative Unterstellung von relevanter Selbstreferenz eines Mitteilenden gegen Null. Sie ist, um die Metapher noch einmal heranzuziehen, für die Autopoiesis des Systems so unwichtig wie für die Wogen des Meeres der Surfer. Es bedarf keiner transsozialen Identität, um Hyperlinks zu betätigen, keiner aufwendig durch Kommunikation elaborierten Adresse, sondern nur eines lautlosen Anklicklärms, der zu einem weiteren Dokument durchsticht, in dem weitere links die Möglichkeit offerieren, weitere links in weiteren Dokumenten zu erreichen. Das Problem der Adresse (jener Selbstsimplifikation von Kommunikation) fällt für diese leicht gleitende Autopoiesis nahezu ganz aus und wird allenfalls auf der Ebene der Dokumente erster Ordnung noch bearbeitet.

Diese Kommunikation ist mithin nicht mehr oder kaum noch angewiesen auf elaboriertes Bewußtsein, auf elaborierte Identität, auf eine irgendwie kontinente Adresse. Vielleicht könnte man von einer flachen Kommunikation reden, die nicht in die Tiefe bewußter Selbstreferenz hineinrechnen, hineininterpolieren muß.

Deshalb ist das System (der Tendenz nach) all-inklusiv.(Fußnote 28)

All-Inklusivität

All-Inklusivität, das soll zunächst bedeuten, daß niemand prinzipiell vom System als relevante Lärmquelle ausgeschlossen wird. Die flache Kommunikation, die wir beschrieben haben, wirft keine Verbotsspielräume, kein interdit, keine Strategie der Exklusion aus, die systematisch begründet wäre und sich durchhalten ließe, ohne daß Umwege begangen werden könnten. Zweifelsfrei gibt es in der Umwelt des Systems Restriktionen, infrastrukturelle Blockaden wie fehlende Technik, fehlendes Geld, fehlende Instruktionen, sogar ideologische bzw. fundamentalistische Verbote, aber darüber verfügt nicht das System, dessen Form ausschließt, daß soziale Adressen ausgeschlossen werden. Es nimmt sie, wenn wir pointiert formulieren, auf der Ebene seiner Autopoiesis nicht zur Kenntnis, und da es (wiederum wie die Gesellschaft) keine Einheitsrepräsentation in sich selbst hat (es gibt keinen superlink), können alle Versuche, links abzuschneiden, die operativen Verweise zu kappen, immer nur lokal sein, und gerade das erlaubt die Struktur der Umwegigkeit.

Interessant ist dieser Punkt, weil auch mit ihm eine sehr allgemeine Formkonsequenz der Gesellschaft befriedigt wird. Die funktionale Differenzierung bezieht schließlich ihre Legitimität aus der Gleichheitsforderung im Blick auf den Inklusionsmechanismus: Jeder muß an allen Funktionssystemen partizipieren können, niemandem darf die Bahn der Inklusion verlegt werden - eine extrem kontrafaktische Forderung, die im Inklusionsbereich der Gesellschaft Ungleichheiten ausfällt und erst im Exklusionsbereich eine hoch integrierte Gleichheit, weil es dort auf Unterschiede nicht mehr so sehr ankommt. Das können wir hier nicht näher erörtern. Entscheidend für unsere Argumentation ist, daß an der Stelle, wo der blinde Fleck der modernen Gesellschaft auftritt (die Paradoxie der Gleichheit, die Ungleichheiten erzeugt, die wieder gleich gemacht werden müssen), daß an dieser Stelle ein System parasitiert, daß in weltweitem Maßstab gänzlich absieht von der Ungleichheit der Chancen, der Kulturen, der Bildungen, der Individualitäten. Es investiert keine Mühe in die Frage, wer in welcher Form an welchen links partizipiert, und wenn sich doch jemand dafür interessiert, dann sind aufwendige Untersuchungen erforderlich, die irgendwann auf die sozialen Adressen treffen, also auf das, wodurch das System selbst kaum tangiert wird.

Bedenkenswert ist, daß Inklusion Part des Schemas Inklusion/Exklusion ist, daß also auch die Frage zulässig ist, was denn, wenn das System all-inklusiv ist, mit der Schemaseite der Exklusion geschieht. Was wird denn ausgeschlossen, wenn niemand ausgeschlossen wird? Die Antwort liegt jetzt nahe: Exkludiert wird die idiosynkratische oder singuläre Adresse der Benutzer. Kehrseite der Reduktion der sozialen Adresse auf Anklickfähigkeit ist die Exklusion von Adressen, denen tiefe Selbstreferenz unterstellt wird. Das wären die Benutzer, die auf der Ebene der Dokumente erster Ordnung verweilen, oder sagen wir: die Benutzer, die sich mit diesen Dokumenten auseinandersetzen. Oder, wenn wir weniger auf die Adressen achten, diejenige Kommunikation, die klassisch orientiert ist, also genötigt ist, in Rede und Gegenrede, Schrift und Gegenschrift, Bild und Gegenbild Bewußtsein so auszuarbeiten, daß es als Instanz der Mitteilung erscheinen kann. Das E-mailing ist eine solche klassische Form oder auch die Form der Konferenz, die wir gerade (oder besser: demnächst) auf der Basis von Dokumenten erster Ordnung durchführen. Dies alles geschieht, aber es geschieht im Register, in gewisser Weise in einer Erststufigkeit, die ihre emergente Zweitstufe dann erreicht, wenn irgendjemand (ohne jede Kontur) im operativen Verweis diese Dokumente anpeilt und sich der operativen Verweise in eben diesen Dokumenten bedient, um an weitere operative Verweise zu kommen. Und typisch für die Vorbereitung dieser Konferenz war, daß nach möglichen links gefragt wurde - zum Beispiel in meine Hochschule oder in eine private homepage oder was immer.

Festhalten läßt sich, daß das System des Internets auch im Moment der All-Inklusivität direkt auf die Form der Gesellschaft bezogen ist, und das sollte niemanden wundern. Wie sonst sollte es prosperieren können?

Realität der Virtualität

All-Inklusivität, das könnte man auch als den Hintergrund der psychischen Faszination auffassen, die das System des Internet auszulösen scheint. Es konstruiert Beobachter (Adressen), die mit marginalen Unterscheidungsmöglichkeiten auskommen, aber es eröffnet für die psychischen Systeme (die ja nicht diese Unterscheidungsmöglichkeit sind) die Möglichkeit, Weltgesellschaft in der Form des et cetera zu erleben, in der Form der arbiträren (hoch kontingenten) Verweisungsschläge, die das System anbietet. In gewisser Weise dupliziert das System diese Weltgesellschaft, stellt es (um eine Luhmann-typische Wendung zu gebrauchen) eine Zweitfassung der Gesellschaft in der Gesellschaft dar, von der dann üblicherweise gesagt wird, sie sei virtuell, üblicherweise auch ohne Angabe dessen, was denn nun als nichtvirtuelle Realität angesehen werden müsse. Wir wollen diese Unterscheidung von Virtualität und Realität gegenüber typischen (und mystischen) Anwendungen schützen, indem wir sie wie alles im Gesamtduktus der Argumentation strikt auf Kommunikation beziehen. Wir suchen also einen Unterschied, der, sagen wir, klassische Kommunikation von der des Systems, das in Rede steht, so unterscheidet, daß der Begriff Virtualität Konturen gewinnt.

Wir haben schon angedeutet, daß die Zeit der Autopoiesis die Zeit des Nachtrags, des Aufschubs, der diffèrance ist. Die Identität eines Ereignisses wird durch ein weiteres Ereignis im Nachtrag ermittelt, dessen Identität auf die gleiche Weise ermittelt wird. Das Systemische des Systems, wenn es erlaubt ist, so zu formulieren, ergibt sich aus dieser Verschobenheit, die alle sinnorientierten Prozesse kennzeichnet. Die Kontrolle über Identität ist in keiner Aktualität zugänglich, und das gesamte System hat keine Aktualität außer in diesem Versetzt-sein. Das System, sei es psychisch, sei es sozial, hat kein ontisches Präsens, und eben deshalb ist der Anschluß, die Spezifikation, die Post-festum-Selektivität das entscheidende Moment aller Autopoiesis. Die Strukturen des Systems sind die Bindungswirkungen, durch die fallende (weitere) Ereignisse durch fallende (weitere) Ereignisse als dazugehörig, als passend, als unpassend, als nicht dazugehörig diskriminiert werden - bis auf den jederzeit möglichen Widerruf. Jene Bindungen, das sind Konsistenzanforderungen, die nur gewisse Grade an Überraschungen zulassen, nur soviel Überraschung, daß sie noch registrabel ist - ohne Panik. Das ist zunächst nicht anders in der Autopoiesis des Systems Internet. Es geht nur um eine minimale Offerte in einem Netzwerk minimaler Offerten. Das System konsolidiert sich an kleinräumigen (kleinsinnigen) Angeboten, die weitere kleinräumige (kleinsinnige) Angebote aufrufen. Der operative Verweis spezifiziert den vorangegangenen operativen Verweis nur dadurch, daß er zustandegekommen ist, und wenn er nicht zustandekommt, dann ist ein technischer Fehler im Spiel oder etwas im Dokument erster Ordnung hat eine Durchgriffsmöglichkeit vorgetäuscht. Aber wie kleinräumig oder wie kleinsinnig auch immer, die Zeitmodalität ist hier die der Verschobenheit, wie wir sie kennen.

Das ist aber anders bei den Dokumenten, die im operativen Verweis aufgeblendet oder erreicht werden. Sie werden in der Normalzeitrichtung (die es für Sinnsysteme nicht gibt) aufgestaffelt, sie sind im Nacheinander nicht struktur-arrangiert, sie sind nicht die Beschreibungen ihrer Vorgänger in der Zeit des Benutzers. Die Autopoiesis des Systems ist indifferent gegenüber dem, was sie verknüpft. Sie inszeniert gleichsam im Modus des Desinteresses eine Szenenfolge, in der es auf Konsistenz nicht ankommt. Oder genauer noch: Sie inszeniert simultan beliebig viele Szenenfolgen, in denen es nicht um Konsistenz geht.(Fußnote 29) Sie verzweigt Angebote für Beobachtungsmöglichkeiten, sie ist pure Proliferation. Sie realisiert die Form von Sinn selbst, ohne für den Sinn, den sie aufblättert, Verantwortung zu übernehmen. Und: Sie hat irgendwo die Szenen (die Dokumente) zur Verfügung, aber sie verfügt nicht über die Szenenfolgen.(Fußnote 30) Diese Sequenzen, die im operativen Verweis auf operative Verweise entstehen, haben kein Beharrungsvermögen, keine Trägheit (Hysteresis). Die operativen Verweise bauen Horizonte auf, die für das System im Aufbau zusammenstürzen. Es entstehen keine Spuren, keine Bahnungen. Der Benutzer schreibt seine Strategien des linkens nicht in das System ein, er legt nichts fest.(Fußnote 31)

Das System produziert in genau diesem Verständnis Virtualität. Wiederum trifft die Metapher des Surfens sehr präzise zu. Die Operation des Systems führt Sinnangebote zusammen, deren Konnexität für es selbst arbiträr ist. Das System ist, wie wir auch sagen könnten, unempfindlich gegen bestimmten Sinn, der auf der Ebene der Dokumente traktiert wird. Gerade deshalb muß es auch nicht ein Bewußtsein konstruieren, das sensibel ist, idosynkratisch oder singulär. Wir haben es im Blick auf die Autopoiesis des Systems mit der Produktion nomadisierender Sinnverteilungen zu tun, mit virtuellen Konstellationen, die nicht als Realität im System (also nicht als Struktur) sedimentieren.(Fußnote 32) Wir haben es insofern nicht mit virtuellen Kommunikationen zu tun, sondern mit einer harten, robusten Autopoiesis, die für sie irrelevanten Sinn disseminiert.

Hyperautonomie der Kommunikation

Das sind nun bizarre Überlegungen, die dem System des Internet die Funktion zutrauen, Bewußtsein in der Form, in der es sonst unterstellt wird, auszudünnen und auf äußerst flache Adressen zu reduzieren. Vor allem können diese Überlegungen kontraintuitiv erscheinen angesichts der häufig vorzufindenden Einschätzung, das System müsse im Blick auf Kommunikation als eine neue Chance der Wiedergewinnung des Anderen, als Chance zur Dialogisierung begriffen werden.(Fußnote 33) Schließlich falle es ja auf, wieviel an klassischer Kommunikation das System ermögliche, wieviel Formen es entwickelt habe, die dem Informationsaustausch dienten oder auch einfach nur dem just for fun einer thematisch bindungsfreien Geselligkeit. Es könnte angesichts dieser Enthusiasmen deshalb nütz lich sein, die kühleren Einschätzungen der Lage, die sich mittlerweile finden, auf unseren Kerngedanken zu beziehen, also kurz noch den Versuch zu unternehmen, die kuriose Autopoiesis dieses Systems und die daran geknüpften gesellschaftstheoretischen Überlegungen zu plausibilisieren.(Fußnote 34)

Das, was als Kontingenzsteigerung der Kommunikation durch die Einführung interaktiver Medien verstanden wurde,(Fußnote 35) läßt sich begreifen als jene Virtualisierung des Systemregisters durch die elementare Einheit des Systems, den operativen Verweis. Es kommt mithin weniger darauf an, daß die infrastrukturelle Technik Unberechenbarkeiten erzeugt, die die Benutzer irritieren, sondern darauf, daß das soziale System eine Einheit prozessiert, die gegen psychische Irritabilitäten umempfindlich ist, und daß eben deswegen virtuelle Arrangements aus den Dokumenten der ersten Ebene gezogen werden, die hoch kontingent sind. Das System schließt (anders als die Massenmedien) die Parallelisierung der Beobachter (user) aus, es spiegelt in dieser Hinsicht die Polykontexturalität der modernen Gesellschaft. Es geht tatsächlich um das „Fehlen einer gemeinsamen thematischen Referenz und Bündelung gesellschaftlicher Aufmerksamkeit“.(Fußnote 36) Der negative Ausdruck täuscht darüber hinweg, daß dieses ´Fehlen´ das Proprium des Systems, seine Leistung ist. Die Nichtverallgemeinerbarkeit der Hypertext-Pfade, der Ausfall generalisierbarer Themen, die Verhinderung einer Wirkperspektive, das sind unmittelbare Effekte der Autopoiesis des Internet.(Fußnote 37) Ihre Kontextneutralität ist (gegen alle uns bis heute bekannten Kommunikationsgepflogenheit) de-konstruktiv, oder anders gesagt: Sie ist die Bedingung der Möglichkeit, eine supermultiple (nomadisierende) Konstruktion der Realität zu erzeugen, die keine Einfachereignisse kennt und nicht einmal mehr zu einer Art quasi-ontologischer Vision einer Realität hinter der Realität verdichtet werden kann.

Jener Eindruck von Geselligkeit im System verkennt das Maß an Anonymisierung, an Tilgung ´tiefer´ Selbstreferenz, von dem wir angenommen haben, daß sie nicht allein (nicht einmal vorwiegend) Ergebnis infrastruktureller elektronischer Prozeduren sind, die intermediäre Instanzen aufbauen, die Interaktivität nur simulieren. Wir haben stattdessen ein Sozialsystem in den Blick genommen, das seine Erfolgsbedingungen aus der polykontexturalen Konstitution der Gesellschaft bezieht, indem es erprobt, wieviel Bewußtsein der Kommunikation entzogen werden kann, ohne sie in den Kollaps zu treiben.

Es geht nicht um die Übermacht der Maschinen, es geht um das Experiment hyperautonomer Kommunikation. Vielleicht darf man sagen (jenseits kulturkritischer Ambitionen), daß Kommunikation (und wir haben nur über einen einschlägigen Testfall spekuliert) in eine Substitutionskonkurrenz operativ einzutreten beginnt, in der der Anspruch des Bewußtseins, Subjekt zu sein, nicht mehr nur theoretisch konterkariert wird. Aber dann, und das haben wir eingangs festgehalten, geht es um sehr viel mehr als um die Soziologie einer Technik.

Wenn wir sie denn hätten, müßten wir jetzt nach Philosophen schreien.